Herr Hager
Lehrer für Geschichte und Philosophie
 
 

"Wie werden die Kranken behandelt?"

Interpretation einer Textquelle über den sog. Kulihandel in der 2. Halfte des 19. Jahrhunderts


Rahmenthema: Wechselwirkung und Anpassungsprozesse

Kernmodul: Migration

Pflichtmodul: China und die imperialistischen Mächte

Material entnommen und übersetzt aus: Chinese Emigration. The Cuba Commission. Report of the commission sent by China to ascertain the condition of Chinese coolies in Cuba, Shanghai 1876 (Nachdruck Taipei 1970), S. 67, online: https://digitalcollections.library.miami.edu/digital/collection/cubanlaw/id/88639


XXXVII

 

Wie werden die Kranken behandelt?

 

Viele der Krankenhäuser, die es in jeder kubanischen Stadt gibt, verfügen über umfangreiche Unterbringungsmöglichkeiten, sind nicht ohne Rücksicht auf Eleganz eingerichtet und von Gärten umgeben oder umgeben Gärten und Ziersträucher, sie sind komplett mit Betten und anderen Einrichtungen ausgestattet, verfügen über genügend Pflegepersonal und obwohl sie nicht explizit für Chinesen konstruiert wurden, können diese all die Vorteile darin genießen, die sie bieten.
Die Krankenstationen auf den Plantagen sind ebenso sauber und werden in manchen Fällen von Ärzten geleitet, aber nach den Aussagen, die von der Kommission gesammelt wurden, ist der Anteil der Chinesen, denen der Zugang gewährt wurde, sehr gering.
Die Petition von Lai Chih-chih und drei Weiteren besagt: „Wenn wir krank sind und nicht arbeiten können, werden wir geschlagen.“ Li Ying-sung sagt in seiner Petition aus: „Ich wurde, wenn ich krank war, mit der geschlossenen Faust geschlagen, getreten oder wenn größere Strenge gezeigt wurde, fast zu Tode gestochen oder gepeitscht.“ Ch‘en Te-ming erklärt in seiner Petition: „Wenn wir krank waren, wurde uns nicht gestattet im Krankenhaus zu bleiben und wenn wir um Aufnahme baten, wurden wir geschlagen, unsere Füße wurden in Ketten gelegt und unsere Löhne wurden einbehalten.“ Im selben Sinne sind folgende Auszüge aus Stellungnahmen. Lin Lung und 17 Andere erklären, dass es ihnen nicht erlaubt war sich krank zu melden; Liao Ying und 15 Andere erklären, dass sie ausgepeitscht wurden, weil sie sich krankmeldeten; Yang Chin und 9 Andere erklären, dass ihnen nicht erlaubt wurde sich krank zu melden und dass ihre Füße in Ketten gelegt wurden, wenn sie es trotzdem taten; Chou Liu und 2 Andere erklären, dass es ihnen nicht erlaubt war die Krankenstation zu betreten, wenn sie krank waren, dass sie in Ketten gelegt, geschlagen und zur Weiterarbeit gezwungen wurden; […]
Li A-lai sagt aus: „Als ich mich krankmeldete, wurde ich ständig geschlagen. Ich wurde beschuldigt nur vorzugeben krank zu sein.“ […]
Ch‘en A-Fu sagt aus: „Durch eine Verletzung war einer meiner Arme gebrochen. Der Bruch wurde geheilt, aber ich wurde mit dem Abzug von neun Monatslöhnen bestraft.“ Li Cho sagt aus: „Als ich mich krankmeldete, schlug mich der Verwalter, legte meine Füße für drei Tage in Ketten und zahlte mir acht Monate lang keinen Lohn.“ Huang A-man sagt aus: „Wenn wir krank waren, hetzte der Arzt die Hunde auf uns und schlug uns mit Stöcken.“ Yü-A-t‘ien sagt aus: „Als ich so ernstlich krank war, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte, schlug mich der Arzt zuerst, bevor ich ins Krankenhaus durfte.“ Liu A-yao sagt aus: „Als ich krank war, wurde ich in der Krankenstation eingesperrt und erhielt während einiger Tage überhaupt kein Essen, aber der Arzt besuchte mich nicht.“ Yüan A-an sagt aus: „Als ich so krank war, dass ich Blut spuckte, erlaubte mir der Arzt nicht ins Krankenhaus zu gehen.“ Kao A-tai sagt aus: „Als ich krank war, erhielt ich keine medizinische Hilfe.“


A) Historische Kontext (siehe auch Buchners Kolleg Geschichte NI Abitur 2024, S. 197)

Schon vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es Auswanderung aus China. Auch wenn Auswanderung staatlicherseits verboten war, so wurde sie in Bezug auf bestimmte Gesellschaftsschichten und Berufsstände toleriert.

Vor 1850 wanderten hauptsächlich reiche Händler in den südostasiatischen Raum aus, um dort Zweigstellen ihrer Handelsunternehmungen zu gründen.

Ab Mitte des 19. Jahrhunderts änderte sich die Migration aus China jedoch. Jetzt waren es veramte Bauern und verschuldete Städter, die aufgrund ihrer prekären Lebenssituation China verließen, um im Ausland ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Neben den Migrationsgruppen veränderten sich auch die Migrationsziele. Zwar blieb Südostasien eine wichtige Zielregion, hinzu kamen aber auch weiter entfernte Regionen wie z. B. Nord-, Süd- und Mittelamerika (Karibik).

Durch die Veränderung der Migrationsgruppen und der Migrationsziele erhöten sich auch die Migrationszahlen (Statistik s. u.). Insgesamt nahm die Auswanderung aus China ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich zu. Eine Ursache dafür war auch die Aufhebung des Ausreiseverbots für Chinesen, der die chinesische Regierung letztendlich im Rahmen der Pekinger Konvention von 1860 zustimmen musste. Damit kam es am Ende des 2. Opiumkriegs im Rahmen eines weiteren "ungleichen Vertrags" zwischen den imperialistischen Mächten und dem chinesischen Kaiserreich zur erzwungenen Öffnung Chinas.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die wichtigsten Ziele der chinesischen Arbeitsmigranten Peru (Südamerika, ca. 100.000 Auswanderer), Kuba (Mittelamerika, ca. 100.000 Auswanderer) und die USA (Nordamerika, ca. 350.000 Auswanderer). In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wanderten nochmals ca 250.000 chinesische Vertragsarbeiter in die USA aus.

Die Arbeitsverträge für Peru und Kuba, die die Chinesen bereits in ihrem Heimatland abgeschlossen hatten, liefen - auf dem Papier - über eine Zeit von 8 Jahren. Die Unterzeichnenden hatten jedoch meist keine genaue Kenntnis über den Vertragsinhalt, da sie nicht auf Chineisch geschrieben waren. Der Transport in die Zielländer erfolgte per Schiff und glich der menschenunwürdigen Verschiffung der afrikanischen Sklaven im Rahmen des sog. Atlantischen Sklavenhandels.

Auf Kuba arbeiteten die chineschen Vertragsarbeiter meist auf Zucker- oder Baumwollplantagen, wutrden aber auch für Straßenbauarbeiten eingesetzt. In Peru arbeiteten die chinesischen Vertragsarbeiter in Bergwerken und auf den sog Guano-Inseln in der Düngergewinnung.

Nach Ablauf der Vertragslaufzeit konnten die Chinesen in Peru auch anderen Beschäftigungen nachgehen und z. B. als Kleinhändler oder Köche in den Städten arbeiten. Auf Kuba dagegegen wurden die chineischen Vertragsarbeiter nicht entlassen, sondern gezwungen neue Verträge zu unterzeichnen, woraufhin sie die Arbeit unter sklavenählichen Bedingungen fortsetzten mussten. Ihre Unterbringung erfolgte dabei in "Depots", in denen die wie Strafgefangene gefesselt bis zu ihrem nächsten Einsatz warten mussten.

In den USA arbeiteten Chinesen v. a. in den Westküstenstaaten (z. B. Kalifornien) und spielten eine wichtige Rolle bei der Erschießung der westlichen Landesteile. Die Arbeitsbedingungen waren zwar hart, jedoch nicht mit den zwangs- bzw. sklavebarbeitsähnlichen Bedingungen auf Kuba vergleichbar. Allerdings erfuhren die Chinesen in den USA, wo sie hauptsächlich im Eisenbahnbau und der Landwirtschaft arbeiteten waren, eine schlechte Behandlung als andere Arbeiter und Diskriminierung aufgrund ihrer Herkunft. In den USA konnten die chinesischen Auswanderer auch in den schnell wachsenden Städten sesshaft werden, wo die eigene Gemeinschaften gründeten.

 

B) kriterienorientierte Textquelleninterpretation (siehe auch Methodentrainer Geschichte Oberstufe 2010, S. 17)

Der vorliegende gekürzte Textquellenauszug stammt aus einem umfassenden Untersuchungsbericht ("Kuba-Report") einer diplomatischen Kommission, die vom chineischen Kaiserhof beauftragt wurde, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen der chineischen Vertragsarbeiter auf Kuba zu untersuchen ("Kuba-Kommission"). Die Kommission war international besetzt. Neben einem chineischen, einem britischen und einem franzöischen Kommissar hatte die Kommision weitere US-amerikanische und chinesische Mitgleider, die z. T. Übersetzerfunktionen wahrnahmen.

[Weitere Informationen zur sog. Kuba-Kommission finden sich auf dieser Internetseite: https://heiup.uni-heidelberg.de/journals/index.php/transcultural/article/view/13009/11348]

Das Material für den Bericht, der 1876 auch als englischsprachiges Buch veröffentlicht wurde (Nachdruch 1970), sammelte die Kommision in der Zeit vom 17. März bis zum 08. Mai 1874 während ihrer Reise auf Kuba in verschiedenen Städten und auf kubanischen Plantagen. Nach der Rückkehr von Kuba erstattete die Kommision zunächst  dem Kaiser auftragsgemäß Bericht. Der Bericht ging auch an den spanischen Botschafter in Peking, erreichte auch die diplomatischen Vertretungen anderer imperialistischer Mächte (England, Frankreich, USA) und wurde vermutlich ebenfalls auszugsweise in der Presse veröffentlicht.

Der hier ausgewählte Auszug aus dem Bericht, der insgesamt 1176 Einzelaussagen chineischer Vertragsarbeiter auf Kuba umfasst, kann grob in drei Abschnitte eingeteilt werden. Nach der lateinischen Kapitelnummerierung folgt die von der Kommission selbst gestellte Untersuchungsfrage (Leitfrage) nach der medizinischen Versorgung der chineischen Vertragsarbeiter. In den ersten beiden Absätzen, die die Untersuchungsergebnisse der Kommision in Bezug auf die a) Krankenhäuser in den Städten und b) Krankenstationen auf den Plantagen wiedergeben, folgen in den weiteren drei Absätzen die Eingaben ("Petitionen") und Erklärungen von insgesamt 61 Vertragsarbeitern in entweder direkter Rede (Zitate) oder indirekter Rede. Dabei werden 15 Arbeiter namentlich genannt.

Die Arbeiter berichten in ihren Aussagen bezüglich Krankmeldungen bei ihren Arbeitgebern von Gewalt (geschlagen, getreten, Strenge, gestochen, gepeitscht, in Ketten gelegt, zur Wieterarbeit gezwungen), finanzieller Benachteiligung (Löhne einbehalten, Lohnabzug, Lohnverweigerung), Freiheitsentzug (eingesprerrt) und Vernachlässigung (kein Essen, keine medizinische Hilfe).

Die Sprache in diesem Textquellenauszug ist in Bezug auf die ersten beiden Teile sachlich-informativ und in bezug auf die Aussagen der Vertragsarbeiter eher drastisch-konkret.

Die Kernaussage der Textquelle, die die Kommission hier nicht selbst formuliert hat lautet:

Obwohl ausreichend Personal und Mittel für die medizinische Versorgung der erkrankten chinesischen Vertragsarbeiter zur Verfügung steht, wird ihnen diese von öffentlichen und privaten Stellen vorenthalten. Stattdessen reicht die Behandlung von Vernachlässigung über Benachteiligung, Bestrafung bis hin zu massiver Gewalttätigkeit. Nur einer  von 61 Arbeitern berichtet über eine Heilung, nicht ohne ebenfalls mit Lohnabzug bestraft worden zu sein.

Maik Hager

 

C) Literaturhinweise

 

- Ng, Rudolph: The Chinese Commission to Cuba (1874): Reexamining International Relations in the Nineteenth Century from a Transcultural Perspective, in: The Journal of Transcultural Studies, Jg. 5, Heft 2 (2014), S. 39-62.

 

- s. v. Kuli (Tagelöhner), in: de.wikipedia.org

 

- Wippich, Rolf-Harald: Die „Fanny Kirchner"-Affäre 1860. Eine oldenburgische Bark, der chinesische Kulihandel und die internationale Reaktion, in: Comparativ, Jg. 13, Heft 4 (2003), S. 61-79.